Rede G. Grass

2003-03-24

Grass: Das Unrecht des Stärkeren

Rede des Nobelpreisträgers über den Irak-Krieg, den Verfall amerikanischer Werte und seinen neuen Stolz auf Deutschland. Der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass hat gestern (22. März 2003) Abend in Halle anlässlich der Entgegennahme des ersten Halle-Preises eine Rede gehalten, in der er Stellung zum Irak-Krieg nimmt. Ich zeige hier die denkwürdige Ansprache nachfolgend im Wortlaut:

"Ein Krieg hat begonnen, der seit langem gewollt und geplant war. Gegen alle Bedenken und Warnungen der Vereinten Nationen ist völkerrechtswidrig einem übermächtigen Militärapparat der Befehl zum präventiven Angriff erteilt worden. Kein Einspruch half. Das Votum des Sicherheitsrates wurde missachtet und als irrelevant verhöhnt. Seit dem 20. März 2003 gilt nur noch das Recht des Stärkeren. Und gestützt auf dieses Unrecht hat der Stärkere die Macht, Kriegswillige zu kaufen und zu belohnen, Kriegsunwillige zu missachten oder gar zu bestrafen. Das Wort des derzeitigen amerikanischen Präsidenten 'Wer nicht für uns ist, ist gegen uns' lastet als Nachhall aus barbarischer Zeit auf allem gegenwärtigen Geschehen. So kann es nicht verwundern, wenn sich die Sprache des Angreifers der Wortwahl seines Feindes mehr und mehr angeglichen hat. Religiöser Fundamentalismus ermächtigt beide Seiten, den allen Religionen eigenen Begriff 'Gott' zu missbrauchen und nach jeweils fanatischem Verständnis 'Gott' in Geiselhaft zu nehmen. Selbst die leidenschaftliche Warnung des Papstes, der aus Erkenntnis weiß, welch fortdauerndes Unheil christliche Kreuzzugsmentalität und ?praxis zur Folge gehabt haben, blieb ohne Wirkung. Verstört, ohnmächtig, aber auch voller Zorn sehen wir dem moralischen Niedergang der einzig herrschenden Weltmacht zu, ahnend, dass dem organisierten Wahnsinn eine Folge gewiss ist: die Motivierung zu anschwellendem Terrorismus, zu weiterer Gewalt und Gegengewalt.


Sind das noch die Vereinigten Staaten von Amerika, die uns aus vielerlei Gründen gut in Erinnerung sind? Der großmütige Spender des Marshallplanes? Der langmütige Lehrmeister im Schulfach Demokratie? Der freimütige Kritiker seiner selbst? Das Land, dem einst der Prozess der europäischen Aufklärung behilflich wurde, die Kolonialherrschaft zu überwinden, sich eine beispielhafte Verfassung zu geben, und dem die Freiheit des Wortes unverzichtbares Menschenrecht war? Nicht nur wir erleben, wie dieses Bild, das im Verlauf der Jahre mehr und mehr Wunschbild wurde, verblasste und nun zum Zerrbild seiner selbst wird. Auch viele amerikanische Bürger, die ihr Land lieben, sind entsetzt über den Zerfall der ureigenen Wertvorstellungen und über die Hybris der hauseigenen Macht. Ihnen sehe ich mich verbündet. An ihrer Seite bin ich erklärter Proamerikaner. Mit ihnen protestiere ich gegen das brutal ausgeübte Unrecht des Stärkeren, gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit, gegen eine Informationspolitik, wie sie vergleichsweise nur von totalitären Staaten praktiziert wird, und gegen jene zynische Rechnung, nach der der Tod vieltausender Frauen und Kinder hinzunehmen ist, wenn es um die Wahrung ökonomischer und machtpolitischer Interessen geht. Nein, nicht Antiamerikanismus beschädigt das Ansehen der USA, nicht der Diktator Saddam Hussein und sein weitgehend abgerüstetes Land gefährden die stärkste Macht der Welt; es sind der Präsident Bush und seine Regierung, die den Verfall demokratischer

Wertvorstellungen betreiben, die ihrem Land Schaden bringen, die die Vereinten Nationen ignorieren, und die nun durch einen völkerrechtswidrigen Krieg die Welt in Schrecken versetzen. Man hat uns Deutsche oft gefragt, ob wir stolz seien auf unser Land. Die Antwort fiel schwer. Und es gab Gründe für unser Zögern. Ich kann sagen, dass mich die Ablehnung des jetzt begonnenen Präventivkrieges durch die Mehrheit der Bürger meines Landes ein wenig stolz auf Deutschland gemacht hat. Nach zwei von uns zu verantwortenden Weltkriegen mit verbrecherischen Folgen haben wir, was schwer genug fiel, aus der Geschichte gelernt und die uns erteilten Lektionen begriffen. Seit 1990 ist die Bundesrepublik Deutschland ein souveräner Staat. Zum ersten Mal hat die Regierung von dieser Souveränität Gebrauch gemacht, indem sie den Mut hatte, dem mächtigen Verbündeten zu widersprechen und Deutschland vor einem Rückfall in unmündiges Verhalten zu bewahren. Ich danke dem Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinem Außenminister Joschka Fischer für ihre Standhaftigkeit; allen äußeren und inneren Anfeindungen und Verleumdungen zum Trotz sind sie glaubwürdig geblieben. Viele mögen gegenwärtig verzagt sein. Es gibt Gründe dafür. Dennoch dürfen unser Nein zum Krieg und unser Ja zum Frieden nicht verhallen. Was ist geschehen? Der Stein, den wir bergauf wälzten, liegt wieder am Fuße des Berges. Also wälzen wir ihn abermals bergauf, auch wenn wir ahnen, dass er uns, kaum liegt er oben, wieder am Fuße des Berges erwarten wird. Das, immerhin das, der nie endende Protest und Widerspruch, ist und bleibt menschenmöglich."


zurück